20101225

interview mit gaby weiss, esslinger zeitung



Der Musikmarathon bedeutet für Sie jeden Tag aufs Neue ein Abenteuer, weil Sie ein Jahr lang nie am selben Ort und in derselben Besetzung auftreten. Was reizt Sie ganz besonders an diesem Projekt?

zunächst einmal die herausforderung, überhaupt dieses projekt zustande zu bringen. dass es fast ohne finanzielle mittel soweit gekommen ist, dass ich am 1.1. starten kann.  weitergehend liegt der reiz darin, dass ich mich musikalisch in den verschiedenen besetzungen jeden tag neu definieren muss. dass ich, obwohl ich meiner art, zu musizieren, sicher nicht untreu werde, jedes mal ganz behutsam beginnen muss, zusammen mit den anderen musikern ein ad-hoc-kunstwerk zu schaffen. welche vielfalt sich da entwickelt und ob sich wirklich die erhoffte vielfalt entwickelt.

Der Musikmarathon ist ein Festival der Improvisation. Braucht improvisierte Musik neben vermehrter Aufmerksamkeit genau diesen ständigen Wechsel der Konstellationen?

nein. improvisierte musik braucht diesen wechsel natürlich nicht unbedingt. ich habe das projekt so geplant, um möglichst viele menschen zu involvieren.  es wäre wohl kaum möglich gewesen, mit einem festen improvisations-ensemble 365 orte und veranstalter zu finden.  die vielen musiker, mit denen ich spiele, tragen ganz wesentlich auch organisatorisch zum gelingen des musikmarathon bei.  

Stilistische Vielfalt ist bei Ihrem Projekt Trumpf. Ist in den einzelnen Konzerten wirklich alles erlaubt oder gibt es auch Grenzen?

solange die musiker während der 36,5 minuten auf der bühne mit respekt begegnen und konzentriert bei der sache sind und der wille da ist, nur mittels des ohres, der intuition und des raumes ein gemeinsames kunstwerk zu schaffen, ist in der tat alles erlaubt. ich würde es z.b. vollkommen akzeptieren, wenn ein musikpartner die ganze zeit lang keinen einzigen ton spielt, nur konzentriert da ist und das konzert so mitträgt. bei dieser konzertreihe geht es in erster linie um die (innere) haltung eines jeden. 
z.b. könnte es sein, dass in meinem sinne kein sehr gutes konzert zustandekommt, wenn jeder musiker reihum seine virtuosen fähigkeiten vorstellt, so wie das ja häufig, vor allem im jazz, der fall ist. 

Sie geben Ihre Esslinger Wohnung für den Musikmarathon auf und lassen vieles hinter sich. Gab es auch Momente, in denen Sie gezweifelt haben, ob Sie sich auf dieses Abenteuer einlassen sollen?

allerdings. aber die grössten zweifel waren nie inhaltlicher natur, sondern eher, dass ich dachte, ich werde mich finanziell ruinieren und nie mehr aus den schulden herauskommen, die ich im letzten frühjahr angehäuft hatte. inzwischen hat sich dank ritter sport, einem mäzen aus göttingen und finanzieller unterstützung der stadt esslingen die lage wieder entschärft. 
ängste habe ich allerdings immer wieder: vor allem weiß ich noch nicht genau, was ich an den tagen machen werde, an denen keine konzerte stattfinden. ich glaube nicht, dass es gut wäre, dass das allzu häufig passiert.
deswegen bitte ich auch an dieser stelle eindringlich um mithilfe, dass alle konzerte und vor allem das abschlusskonzert mit party, die tuttinale in den uferhallen berlin, stattfinden werden.

Sie haben viele persönliche Kontakte zu anderen Musikern, aber vermutlich nicht genug, um ein ganzes Jahr lang den steten Austausch mit immer neuen Kollegen zu proben. Wie sind Sie an Ihre Mit-Musiker gekommen?

in erster linie übers internet, sowie über empfehlungen von musikern, die ich schon kannte oder eben auf meinen zweijährigen vorbereitungsreisen durch ganz deutschland kennengelernt habe. seit november 2008 habe ich etwa 75000 km zurückgelegt und hunderte von musikern persönlich kennengelernt. insofern kann man auch sagen, dass der marathon eigentlich schon stattgefunden hat und dass das kommende jahr dagegen honiglecken ist. 

Improvisation muss spontan sein, braucht aber auch zwischen den Musizierenden eine Chemie, die stimmt. Wie können Sie sicher sein, dass das Zusammenspiel Abend für Abend funktioniert?

da kann ich natürlich überhaupt nicht sicher sein.  im untertitel heisst mein projekt ja <musik braucht risiko>.
natürlich wünsche ich mir keine selbstdarstellerische psycho-party auf der bühne.  ich akzeptiere fast alle musiker, weil diese sich ja auf eine doch klare und nicht gerade einfache vorgabe einlassen. wenn ich merke, dass sie das konzept nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, melde ich allerdings meine zweifel an und es kommt dann eher nicht dazu, dass wir sagen: ja, wir machen das! 

Der Musikmarathon soll am 31. Dezember 2011 mit einem riesengroßen Abschlusskonzert, das alle Musiker zusammenführt, in Berlin enden. Ist dieser Gedanke des Verbindenden ein Leitmotiv, das sich durch Ihr gesamtes Projekt zieht?

ja. ich will mit diesm projekt zeichen setzen. ich will sagen: hört, ihr menschen, hört, ihr kulturverantwortlichen: es gibt da eine sensible art, miteinander zu musizieren, die leider (noch) keine lobby hat. und ich will das genauso den musikern sagen und dem noch kaum existenten publikum einer solchen musik: das, was man da zu hören bekommen kann, ist äusserst lebendig, sensibel und anregend. und genau deshalb braucht es diese manifestation am schluss: das 365-minütige tutti-konzert im ziel des marathons geht zwardann irgendwann, allmählich und sang-und-klanglos in einer riesigen, fröhlichen sylvesterparty unter, aber auch das ist nur ein zeichen dafür, wovon sich diese art von musik nährt: vom zelebrieren des hier und jetzt. 

Haben Sie sich schon mal überlegt, ob Sie nach solch einem ganz außergewöhnlichen Jahr überhaupt wieder in ein geregeltes Dasein an einem Ort zurückkehren können?

ja, ich glaube schon. man kann ideen und überzeugungen ja auch an einem einzigen ort weitergeben, vorausgesetzt es gibt menschen, die sie hören wollen und deswegen an diesen ort kommen. für ganz unwahrscheinlich halte ich das nicht.  aber natürlich will ich dann auch weiterhin improvisierte musik machen. und vielleicht habe ich während des musikmarathon 2011 auch die musiker kennengelernt, mit denen ich das am liebsten tun würde.
  
es ist auch nicht ausgeschlossen, dass ich ein paar jahre später ein ganz anders geartetes projekt starte.